Programmheft Bagatellen

Beethoven | Hölderlin – eine musikalische Begegnung

Ludwig van Beethoven (1770-1827):
Sechs Bagatellen op. 126 (1823/24)

Friedrich Hölderlin (1770-1843):
«In lieblicher Bläue blühet» (1807) | Späte Gedichte (1809-1843)

Michael Engelhardt Sprecher und Konzeption
Stefan Wirth Klavier und Konzeption
Mark Sattler Idee und Konzeption

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5 Seiten DinA4

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«unmittelbarer Rhythmus des innern Seelenlebens»

«(…) ich muss doch noch besonders danken für die goldnen Stunden der Musik! Die freundlichen Töne ruhen in mir, und sie werden manchesmal erwachen wenn es friedlich im Innern und um mich still ist.»
(Friedrich Hölderlin, Brief an Christian Landauer, Februar 1801)

Beethoven begegnet Hölderlin:
Das «Bagatellen»-Projekt.

Beide wurden 1770 geboren, beide gelten als bedeutende Innovatoren, die in ihren jeweiligen Bereichen – der Sprache bzw. der Musik – die Kunst auf die Spitze getrieben haben. Begegnet sind sich Friedrich Hölderlin und Ludwig van Beethoven indes nie, auch gibt es keine Zeugnisse einer gegenseitigen Rezeption. Das «Bagatellen»-Projekt von Michael Engelhardt, Mark Sattler und Stefan Wirth «komponiert» eine musikalische Begegnung, verknüpft Hölderlins Sprache mit Beethovens Musik.

«Die Besten in dieser Art»
Beethovens Bagatellen op. 126.

Die von April bis Juni 1824 komponierten Bagatellen op. 126 sind Beethovens letzte veröffentlichte Werke für Klavier. Nach dem Kosmos der 32 Klaviersonaten und den Dreiunddreißig Veränderungen über einen Walzer von Anton Diabelli für Klavier op. 120 scheinen sie wie ein Nachschlag, der auch dazu diente, eine lästige Geldangelegenheit zu begleichen. Überdies verleitet der Begriff «Bagatelle», den Beethoven schon in früheren Zyklen mit kleinen Formen verwendet hatte, zu der Annahme, es handle sich um Nebensächliches. Doch Obacht: «Von einem grossen Mann ist alles interessant, und die Kleinigkeiten desselben sind es nicht am wenigsten», wusste schon Jean Paul zu sagen. Und das wird aufs Allerschönste bestätigt, wenn man sich genauer mit dem Opus 126 beschäftigt, zumal auch Beethoven seinem Verleger, durchaus geschäftsbewusst, übermittelte: «6 Bagatellen oder Kleinigkeiten für Klavier allein, von welchen wohl manche etwas ausgeführter u[nd] wohl die Besten in dieser Art sind, welche ich geschrieben habe.»

Beethovens «Kleinigkeiten» sind wie die Diabelli-Variationen und der Schlusssatz der letzten Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll op. 111 von ausgeklügelter thematischer, formaler und architektonischer Faktur. Dabei erscheinen sie auf den ersten Blick wie sechs leichte unterschiedliche Charakterstücke in einfacher A-B-A’-Form. Die vierte und längste Bagatelle in h-Moll / H-Dur ist als Rondo angelegt. Die Charaktere und Stimmungen der sechs Stücke reichen von liedhaft (Nr. 1 und 5) über grotesk-burlesk (Nr. 2 und Nr. 4) und romantisch-hymnisch (Nr. 3) bis tanzszenenartig (Nr. 6).

Zeugnisse eines Verrückten?
Hölderlins Texte aus dem Tübinger Turm

Am 3. Juli 1822 besucht der junge Dichter und Schriftsteller Wilhelm Waiblinger (1804-1830) in Tübingen Hölderlin. Der hatte 1806, im Alter von 36 Jahren, einen Zusammenbruch erlitten und war in der Autenrieth’schen Nervenklinik aufgrund der Diagnose «Manie als Nachkrankheit der Krätze» mit den damals üblichen malträtierenden Prozeduren behandelt worden – die ihn zweifelsohne noch mehr brachen –, bevor ihn im Mai 1807 der Schreiner Ernst Zimmer bei sich aufnahm. Bis zu seinem Tod am 7. Juni 1843, die Hälfte seines Lebens also, wohnte Hölderlin, liebevoll umsorgt, in einem Turmzimmer direkt am Neckar, mit Blick in die Neckarauen. Waiblinger, ein Hölderlin-Verehrer, empfing bei diesem Besuch einige Manuskripte und integrierte sie in seinen Roman Phaëton, der Hölderlins Schicksal paraphrasiert. Auf diese Weise wurde der dreiteilige Text «In lieblicher Bläue blühet» überliefert, entstanden ist er vemutlich in den ersten Jahren im Tübinger Turm.

«Sein dichterischer Geist zeigt Sich noch immer thätig», berichtete Ernst Zimmer 1812 an Hölderlins Mutter und übermittelte ihr das Gedicht: «Die Linien des Lebens sind verschieden | Wie Wege sind, und wie der Berge Gränzen. | Was Hir wir sind, kan dort ein Gott ergänzen | Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.»

Man vermutet, dass Hölderlin im Tübinger Turm weit mehr als die 50 überlieferten Texte geschrieben hat. Auch arbeitete an einem dritten Teil seines Briefromans Hyperion, von dem lediglich Fragmente vorhanden sind. Besucher*innen – auch lästige, galt Hölderlin doch als Tübinger Attraktion – erbaten sich von ihm Gedichte, die er aus dem Stand niederschrieb und ihnen mitgab. Er spielte Klavier, unternahm Ausflüge.

Aus seinen letzten Lebenstagen ist das Gedicht Die Aussicht überliefert:

Die Aussicht

Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben,
Wo in die Ferne sich erglänzt die Zeit der Reben
Ist auch dabei des Sommers leer Gefilde,
Der Wald erscheint mit seinem dunklen Bilde;
Dass die Natur ergänzt das Bild der Zeiten,
Dass die verweilt, sie schnell vorübergleiten,
Ist aus Vollkommenheit, des Himmel Höhe glänzet
Dem Menschen dann, wie Bäume Blüth’ umkränzet.

d. 24. Mai 1748 / Mit Unterthänigkeit / Scardanelli

Der Dichter verwendete verschiedene Namen. Er verneinte Hölderlin zu sein, und datierte seine Texte in die Vergangenheit oder Zukunft. Sind die sogenannten «Turm-Gedichte», die sich mit ihrer kleinen Form tatsächlich von seinen vorangegangenen langen, hymnischen Gesängen so deutlich unterscheiden, Zeugnisse eines Verrückteten, Umnachteten? Eine Frage, die auch heute noch, wie schon zu Hölderlins Zeit, lebhaft diskutiert wird. Eduard Mörike etwa vermerkte: «Ich habe dieser Tage einen Rummel Hölderlinscher Papiere erhalten, meist unlesbares, äusserst mattes Zeug [bezieht sich auf Texte um 1808/09]». Bettina Arnim: «Es ist etwas tief Ergreifendes darin, die Wahrheit des Gemüths und der Poesie, die durch den Nebel des Verstandes durchbricht wie die Sonne im Herbst. [Die Gedichte] athmen für mich ordentlich fühlbar eine hohe ideale Geistigkeit, die gleichsam in ihrer Kindlichkeit stehen geblieben ist, und bewegen mich wunderbar, indem sie an die Kluft führen, wo das Wort sich dem Verstande entzieht und nur noch unmittelbarer Rhythmus des innern Seelenlebens erscheint.»

B(eethoven) – H(ölderlin)
im Halbton-Abstand

Es war der Ton der späten Gedichte, gelesen von Walter Schmiedinger, der in mir hochstieg, als ich vor einiger Zeit im Radio Beethovens Bagatellen op. 126 hörte. Etwas Gemeinsames erschien in Text und Musik und verband sich. Unterschiedlicher können Biografien, künstlerische Werdegänge eigentlich nicht sein: Beethoven, getrieben vom Fortschrittsgeist, packte bis zu seinem Tod titanisch Neues an, so nach dem Opus 126 die 9. Sinfonie und die Gruppe der späten Streichquartette. Hölderlins Leben und Werk hingegen verläuft, mit einem Bruch in der Mitte, spiegelbildlich zurück zur (wiedererlangten) Naivität. Seine Turmgedichte sind formal und sprachlich einfach, befreit von jeglichem Dekor. Die überbordende Sprache, die reiche Metaphorik der großen Elegien und Gesänge, wie auch ihr grundlegendes Neudenken der griechisch-christlichen Geistesgeschichte (durchaus im revolutionären Sinne) – dies, und Hölderlins Lebenskämpfe vor dem Zusammenbruch, werden gleichsam «aufgehoben» wie eine «bestimmte Negation» (Friedrich Hegel). «Unter den Bedingungen eines unwiderruflich auf Positives auf Erfolg und Fortschritt vereidigtes Denken konnte jenes Rückwärtsgehen nur als ästhetische Wertminderung, nur als artistisches Nachlassen begriffen werden. In Wahrheit brach hier die Realgestalt dessen herein, was vorher nur idealer Gedanke gewesen war: ‘gänzliche Umkehr’ als kategorisch andere Veränderung, als vorher in ihrer Radikalität nicht vorstellbare ‘Revolution der Gesinnungen und Vorstellungsarten’.» (D. E. Sattler in der Einleitung zu «Dichtungen nach 1806, Mündliches», Bd. 9 der Frankfurter Hölderlin-Ausgabe.)

Stoff der Turmgedichte sind häufig Naturbetrachtungen: sie beschreiben das «Glänzen der Natur» im Wechsel der Jahreszeiten, sie vergegenwärtigen reine Gegenwart. Es gibt keinen Blick zurück, keine Referenzen zum vorher gegangenen Schaffen, Leben (anders als Beethoven in seinem Spätwerk) – und wenn doch, dann schwingt solches nur mehr aus weiter Ferne mit, wie nach einem «break on through (to the other side)».

Wovon die Gedichte eigentlich sprechen, ist einfach und schwer zugleich zu erfassen: ihre Sprache gleicht einem durchscheinenden Stoff, ihre glatte Oberfläche weist Fragen nach tieferem Sinn ab, ihre Klarheit und Reinheit bleibt enigmatisch.

Hatten Friedrich Hölderlin und Ludwig van Beethoven zuvor mit groß dimensionierten Werken Gipfel erklommen, wirken die Turmgedichte und Bagatellen op. 126 wie kleine Kristalle. Verblüffende Korrespondenzen entstehen, wenn man sie wie in unserem «Bagatellen»-Projekt miteinander verknüpft. Durch diese Simultanität entsteht eine besondere Konstellation: ein Dialog, der die Originale neu beleuchtet und aufbricht für andere Deutungen. Die latente Differenz, die in dieser «komponierten» Verbindung liegt, ist wie die Spannung der nur einen Halbtonschritt nah beieinander klingenden Tönen B und H.

Zur Verknüpfung von Sprache und Musik

Sprache und Musik stehen alleine, werden aber auch auf jeweils besondere Art und Weise simultan miteinander verknüpft.

Prolog

Einstimmung auf den Text-Musik-Raum. «In lieblicher Bläue blühet» enthält alle Motive und Töne der folgenden Hölderlin-Gedichte. Der dreiteilige, längste Text des Programms fungiert als Scharnier zwischen den Jahren Hölderlins vor dem Zusammenbruch und seiner Zeit im Tübinger Turm. Das Aufschwingen von Hölderlins poetischem Geist und seine Lebenskämpfe klingen hier ebenso an wie der für die späten Gedichte typische, beschreibende, abgeklärte Tonfall. Stefan Wirth improvisiert dazu eine Begleitung, die ihr Material aus den Tönen B(eethoven) und H(ölderlin) gewinnt. In den Ausklang der Improvisation wird als zweiter Prolog-Text «Die Linien des Lebens sind verschieden» gesprochen.

Bagatellen

Im ersten Block liegen Hölderlins Verse über Beethovens Musik. So werden an verschiedenen Stellen der ersten Bagatelle in G-Dur die beiden Gedichte Der Frühling – «Die Sonne kehrt zu neuen Freuden wieder» und Der Herbst «Das Glänzen der Natur» zur Musik quasi eingelassen, mit ihr gesprochen. Die Sprache erscheint wie bei einem Melodram zur Musik «komponiert», gegen Ende, wenn es zu einer aus großer Höhe absteigender Linie heißt: «Aus Höhen glänzt der Tag, des Abends Leben | Ist der Betrachtung auch des innern Sinns gegeben.»

Bagatelle Nr. 2 g-Moll und das Gedicht Der Frühling – «Wenn aus der Tiefe kommt der Frühling in das Leben» stehen jeweils für sich alleine.

In der dritten hochromantischen Bagatelle in Es-Dur brechen wir Beethovens Komposition dann erstmalig auf und öffnen sie für Hölderlins Sprache. Zu den Schlusstakten hören wir Der Spaziergang – «Ihr Wälder schön an der Seite» über die Musik gesprochen. Die Musik ebbt ab, fädelt sich gegen Ende des Gedichts aber wieder ein – eine großformatige Musik-Text-Musik-Anlage ist entstanden.

An das allein stehende bukolische Gedicht Das fröhliche Leben – «Wenn ich auf die Wiese komme» schließt sich die musikalische Raserei der 4. Bagatelle h-Moll an. Ihr ruhig abgeklärter H-Dur Teil wird am Ende «geloopt» und darüber Hölderlins großer Gesang «Wenn aus dem Himmel hellere Wonne sich | Herabgiesst» gelegt.

Auf die große Ruhe folgt An Zimmern, eines von zwei Gedichten auf Hölderlins Tübinger Logis-Herrn. Der letzte Vers «Daedalus Geist und des Walds ist Deiner» überlappt sich mit dem Auftakt der 5. Bagatelle in G-Dur, die als kurzes Intermezzo alleine vor dem Finale steht.

Die sechste Bagatelle in Es-Dur – das letzte von Beethoven komponierte Klavierstück – ist die formal vielgestaltigste und, mit ihrer montageartigen Schnitttechnik, modernste des Zyklus. In ihrer Reprise öffnet sich die Musik erneut für die Sprache: Griechenland – «Wie Menschen sind, so ist das Leben prächtig», ein Gedicht aus Hölderlins letztem Lebensjahr, sorgt für einen homogenen Schlusspunkt der Bagatellen, endet es doch mit den Worten: «So sinkt das Jahr mit einer Stille nieder». In eine Fermate wird die Signatur «Mit Unterthänigkeit / Scardanelli» gesprochen. Dann folgt, ziemlich überraschend, der Presto-Anfang der Bagatelle – Vorhang zu!

Epilog

Aber eben noch nicht ganz: Geräuschhaltige Klavierklänge aus dem Prolog öffnen Zeit und Raum, dazu hören wir das letzte oben wiedergegebene Gedicht Hölderlins. Die Aussicht – «Wenn in die Ferne geht der Menschen wohnend Leben».

Mark Sattler

Ungekürzte Fassung eines für die Uraufführung des beim Lucerne Festival Sommer 21 geschriebenen Programmheft-Texts.

Mark Sattler ist seit 1999 Dramaturg für zeitgenössische Musik bei Lucerne Festival.

Das «Bagatellen»-Projekt hat er 2019/20 gemeinsam mit Michael Engelhardt und Stefan Wirth entwickelt.