„Ein Künstler, der nicht nach den Sternen greift, kann es sein lassen“
Klaus Zehelein, am 25. Nov. 2023, Thalia Theater Hamburg
Hölderlins Lyrik galt zu seinen jungen Lebzeiten als hymnisch, später als dunkel, kryptisch, wirr und nichtssagend. Er selbst galt erst als vielversprechendes Talent, dann als umnachtet, verrückt, geisteskrank. Heute zählt sein spätes Werk zum alleinstehenden Gipfel der deutschen Poesie, als unerreichte, beispiellose Lyrik, welche die deutsche Sprache und sehr viele spätere Dichter inspirierte und beeinflusste. Hölderlins Sprache entfesselt eine unglaubliche Kraft und Schönheit. Dies einem breiten Publikum nahe zu bringen, ist Anliegen dieser Produktion.
Hölderlins Verse sterben nämlich aus. Sie werden im Schulunterricht nicht mehr behandelt, verschwinden aus Buchhandlungen und Bibliotheken und einzig im philologisch-intellektuellen Garten der Akademien widmen sich (immer weniger) Spezialisten seinem Werk. Und mit dem Verschwinden seiner klingenden Verse, verlieren wir eine Quelle, die uns hilft, Schönheit, Harmonie und Liebe, aber auch Götterstreit und Schicksal wertzuschätzen; uns nicht zu begnügen mit dem Hamsterrad in dürftiger Zeit.
Lotte Zimmer wurde geboren, als Hölderlin bereits sechs Jahre im Hause Zimmer lebte, nach seinem Zusammenbruch und nach einem halben Jahr Irrenanstalt. Lotte erledigte als junges Mädchen erste Aufgaben seiner Pflege, später regelte sie seine Besuche, versorgte sein Essen, seine Wäsche, sein Leben und Wohlbefinden. Nach dem Tod von Lottes Vaters übernahm sie in alleiniger Verantwortung die gesamte Führung des Hauses mit vermieteten Studentenzimmern, die Pflege ihrer chronisch kranken Mutter und des verrückten, alten Dichters. Lotte Zimmer ist eine Schlüsselfigur in Hölderlins Leben in Tübingen ab 1813, als er starb war sie 30 Jahre alt. Sie wurde vollkommen zu Unrecht bisher übersehen und übergangen.
Altenpflege, Sterbebegleitung, Wertschätzung der Verrückten und Abgesonderten – kurz gesagt Liebe! Liebe von Mensch zu Mensch, jeder und jede als Wunder auf dieser Erde – dies ist der rote Faden in „Lottes Oper“. Und dies mit einer Sprache in ihrer höchsten Vollkommenheit.
„An das Göttliche glauben die allein, die es selber sind.“
Jalalu-Kalvert Nelson
Mit ihm gestaltet erstmals in der Musikgeschichte ein afro-amerikanischer Komponist und Musiker eine Vertonung von Hölderlins Versen – nahe dem Gospel und dem Jazz, lupenreine Herzensmusik mit sehr viel Lebenserfahrung, den Harmonien und Melodien zugewandt (aber nicht mit ihnen verkettet), intuitiv, spirituell inspiriert und voller Liebe zur beseelten Musik und ihrer Interpreten. Seit mehr als einem halben Jahrhundert schafft Nelson eine niederschwellige, immer wieder neue Musik.
Maja Bader
ist hervorragend ausgebildet und untersucht in den ersten zehn Jahren ihrer Entwicklung als Sopranistin sehr breit ihre Möglichkeiten. Von geistigen Liedern, Opern, Oratorien, bis zu Cross-Over-Projekten und musiktheatralischen Aufgaben. Die Rezensionen ihrer Arbeiten sind voll Lob und Bewunderung, sowohl Publikum wie Fachwelt möchte mehr von ihr hören. Für „Lottes Oper“ ist sie schlichtweg eine Idealbesetzung. Neugierig und einfühlsam in die psychologische Komponente dieser sehr speziellen Zweierbeziehung zu einem alten Spinner, mutig und bewusst die schauspielerischen Anforderungen auslotend und brilliant im Gesang sowie treffsicher in den rezitativen Parts der lyrischen Sprache.
Michael Engelhardt
gilt als wegweisender Interpret von Hölderlins Lyrik, manchmal auch bezeichnet als seine „singuläre Stimme“. Engelhardts rhythmisch-metrischen Ausarbeitungen, seine Umsetzung der sprachlichen Klanggestalt und sein, wie er es nennt „verantwortetes Sprechen“, gibt den Versen Hölderlins ihren ureigenen Klangraum; und damit die Möglichkeit zu einem eigen-gehörten, wirklichen Verständnis. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt er sich mit Hölderlin und erfreut sich nun an den Früchten.
„Lottes Oper“ – Handlungsverlauf
Das Geschehen beginnt am Mittwoch, dem 7. Juni 1843, nachmittags in Hölderlins „Turmzimmer“ in Tübingen. Hölderlin ist 73 Jahre alt, seit einigen Tagen erkältet und an diesem Tag „sehr bange“. Kurz vor Mitternacht stirbt er. Lotte ist bei ihm.
Der tote Dichter und seine liebevolle Pflegerin führen über die kommenden drei Nächte und drei Tage ein zärtliches, aber ausführliches Zwiegespräch – als szenisches Spiel, in Dialogen und Gesängen.
In vier Szenen entblättern Lotte und Hölderlin die wichtigsten Figuren aus dem Leben des Dichters, stöbern in seinen Briefen und Gedichten, fragen sich gegenseitig nach Herzensangelegenheiten und nehmen von einander Abschied.
Am Ende der letzten Szene, am Samstag Mittag, bleibt Lotte allein im leeren Zimmer zurück. Als die Trauergemeinde zum Leichenschmaus zurückkehrt, hat Lotte den Tisch gedeckt, wir feiern Poesie und Liebe.
Der lebende Hölderlin ist verrückt, redet schnell und beinahe unverständlich, von einer hohen motorischen Unrast getrieben. Lotte und er „siezen“ sich, er ist „Herr Bibliothekar“, sie „Jungfer Lotte“. Mit seinem Tod wechseln die gegenseitigen Anreden ins „Du“, jetzt ist er für sie „mein Guter“, „mein Bester“ und „Lieber“, sie wird „Charlotte“ und „meine Herzallerliebste“.
Der langjährige, vertraute Umgang einer jungen Frau mit einem alten Kauz entblättert Schritt für Schritt eine besondere, tiefe Liebesbeziehung, eine gegenseitig sich hochschätzende Seelenverwandtschaft. Die Tabugrenze von Lust und Begierde wird umgarnt, aber nicht überschritten. Es ist nicht eindeutig, ob seine Blicke sie entkleiden möchten, ob Lottes Wunsch ihn körperlich zu spüren in ihr lebt oder ob dies in der Fantasie der Zuschauer*innen entsteht. Letztlich bleibt ein Raum voller Liebe und Zuneigung, in ehrlicher Offenheit und grossartiger Achtung des anderen.
„… was ist denn der Tod und alles Wehe der Menschen? – Ach! viel der leeren Worte haben die Wunderlichen gemacht. Geschiehet doch alles aus Lust, und endet doch alles mit Frieden. Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles.„