Wenn Michael Engelhardt Hölderlin rezitiert, geschieht etwas buchstäblich Un-Erhörtes. So hat man den Dichter noch nicht gehört, und so kann man ihn keinesfalls für sich leise lesend entziffern. Denn der Rezitator überlässt ebenso Hölderlins Worten wie seinen Rhythmen und Klängen das Spiel. Engelhardts Darbietungen kennzeichnen die sorgfältigst erarbeiteten komplexen Rhythmen und langen Bedeutungs-Bögen der Gedichte. Und er intoniert präzise und mit Aufmerksamkeit für jedes Detail die raffiniert kalkulierten Klangverhältnisse der Vokale und Konsonanten. In weit getragenen Linien, die sich im Übergang zum Gesang bewegen, bringt Michael Engelhardt mit seiner klangvollen Stimme Hölderlin zu Gehör. All dies sind seine Grundlagen, aber nicht das Ziel: Denn hier entsteht eine un-erhörte, absolut erstaunliche Wirkung auf die Zuhörenden: Die Sprachbilder des Dichters stehen plötzlich deutlich und prägnant vor Augen, und die Zusammenhänge der Verse werden klar. Man kann der Entwicklung der Gedanken leicht folgen und meint, diesen komplexesten der deutschen Dichter gänzlich zu verstehen. Die zauberhafte Bewegung der klingenden Sprache überträgt sich auf die Hörenden, und der Unterschied zwischen geistigem Vollzug und emotionaler Bewegung schmilzt dahin. Dem zuzuhören ist ein Genuss und ein großes Erlebnis zugleich.
Barbara Naumann im Oktober 2024